Interview (Kreuzberger Chronik)

Babette Werth – Nach 20 Jahren bin ich in Berlin angekommen

Kreuzberger Chronik, Mai 2013 – Ausgabe 147
von Hans W. Korfmann

Babette Werth kann reden wie ein Buch. Es kann sein, dass es nur so aus ihr heraussprudelt, dass sie keinen Punkt und kein Komma mehr findet. Dass sich ein Gedanke in rasender Schnelle an den anderen reiht, dass die Sätze immer länger werden, weil ja eigentlich so viel zu sagen ist, weil von jedem dieser Sätze andere Sätze in ganz andere Richtungen abzweigen.

Vielleicht hat sie, um sich zu zügeln, ihre Gedanken in diese minimalistische Form der Gedichte gebracht. Kleine, kurze Sätze mit jeweils nur einem einzigen Punkt am Ende. Sätze, die genau das Gegenteil von jenen Sätzen sind, die sie im Café spricht. Sätze, wie sie in einem schmalen Gedichtband, der im Deutschen Taschenbuchverlag erschien und den schönen Titel »relax« trägt, nachzulesen sind.

Baumwipfel stützen Wolken
ein Kichern läuft über den Weg
der Park schläft auf einer Brise.

Babette Werth kann reden wie ein Buch. Und sie kann verschlossen sein – wie ein zugeschlagenes Buch mit sieben Siegeln. Denn wenn Babette Werth schreibt, dann verschweigt sie auch, lässt aus, lässt alles Alltägliche beiseite, ignoriert alles Offensichtliche, Laute und Vordergründige. All die Geschichten des Alltags, aus denen auch ihr Leben gemacht ist: Ein Leben mit einer Kindheit, ersten Lieben und ersten Enttäuschungen, ersten Reisen, Studien und Arbeiten, lauter kleinen, mal amüsanten, mal traurigen, ärgerlichen, ganz menschlichen und ganz alltäglichen Geschichten. Für diese Geschichten ist kein Platz in den knappen Sätzen, nicht einmal für Liebesgeschichten.

Denn ihr ist das Vordergründige zu wenig hintergründig. Ein chronologischer Lebenslauf zu prosaisch. Sie ist immer und überall auf der Suche nach dem Besonderen, nach der Poesie, die doch irgendwo in allem wohnen muss. Es reicht ihr nicht zu sagen, dass das Haus in Bad Godesberg zu groß, dass Bonn in den Sechzigerjahren provinziell, und dass der Bahnhof »gerade mal zwei Geleise« hatte. Dass sie schon immer das Meer suchte, und dass die Berge in der Schweiz viel zu eng beieinander standen, und dass die Luft auf 2000 Meter zu dünn war, und dass das Klassenzimmer in Sils Maria im Engadin zu klein war für fünf Klassen, die in einem Raum unterrichtet wurden. Sie schreibt:

Pollengelber Mondstaub
flieht aus meiner Hand
der Berg wirft Monster
ins Tal, es kracht und
wirft mich an die Wand
Mein Herz schlägt aus.

Also floh sie aus der Enge der Täler in die Weite, suchte ihr Glück in Städten wie Philadelphia oder New York oder Berlin, einer Stadt mitten im deutschen Binnenland, die allerdings mehr Brücken besaß als Venedig mit seinen salzigen Kanälen. Sie transportierte ihre eisernen Skulpturen, an denen sie in ihren Ateliers monatelang herumschmiedete, flexte und feilte, in einem 2CV mit dem geöffneten Schiebedach durch halb Europa, pendelte zwischen der Facultad de Belles Artes in Barcelona und der Bildhauerwerkstatt an der Panke in Berlin, zwischen Stipendien in Spanien, Portugal und der Schweiz.

Aber nicht nur Orte zogen sie an, immer wieder fühlte sie sich zu Anderem, zu Neuem berufen, studierte in Luzern an der Hochschule für Gestaltung, in Barcelona an der Hochschule der Schönen Künste, in Babelsberg an der Hochschule für Film und Fernsehen. Sie arbeitete als Krankenschwester in der Psychiatrie, als Szenografin beim Film, verkaufte Obst und Gemüse auf dem Mercado, eröffnete die Galerie Kulturgucker in der Weichselstraße in Neukölln, und sie verschweißte als Bildhauerin schweres Eisen zu Skulpturen. Das größte dieser Kunstwerke wog 1,5 Tonnen, »und ich kenne jedes Gramm davon!«

Sie reiste von Vernissage zu Vernissage, Irland, Schweiz, Österreich, Spanien, Amerika, jahrelang »definierte« sie sich »über die Ausstellungen«, über ihre Kunst und ihre Arbeit. Doch zwischen den Präsentationen blieb Babette Werth auch immer die Unsichtbare, die Unbekannte. Deshalb gewann das geschriebene Wort allmählich mehr und mehr an Bedeutung für sie. Es ging darum, etwas festzuhalten, »zu erinnern«, in dieser »immer weiter kreisenden Welt« zur Ruhe zu kommen, sich zu finden. Denn im rasenden »Fluss des Tagesgeschehens« drohte sie »verloren zu gehen.« Inzwischen sind im kleinen Verlag Steinmeier die ersten Gedichtbände der ehemaligen Bildhauerin erschienen: 2008 »Die Tinte steht im Mond« und 2010 »Meine Seele im Zahnputzglas«. Orientierungspunkte, Ankerplätze im Leben einer Dichterin, auf der Suche nach dem Heimathafen. Immer zog sich eine Spur der Sehnsucht und der Trauer durch ihre Texte, an deren Ende so oft ein unausgeschriebenes Fragezeichen stand:

Als wir klein waren
Flogen wir nachts
Zur Milchstraße
Und tranken uns
An den Sternen satt

Was ist geworden aus dem kleinen, träumenden Mädchen? Sieht es die Sterne nicht mehr? Sie schreibt:

Der Mond balanciert
auf der Antennen
Stange, auch ein
Komet probt
Salti vom Sattel
Dach am Morgen
Brechen die Sterne
ihr Zelt ab und
Ziehen weiter

Babette Werth kann sein wie ein schweres, verschlossenes Buch. Still und verschwiegen, jedes Wort trägt seine Last. Doch sie kann auch ganz anders sein. 2012 erschien der Gedichtband: »Wenn die Sonne baden geht«. Da tauchen viele kleine Wortspiele auf, leicht und luftig wie Federn. Flüchtige Assoziationen, Worte ohne jede Erdanziehung, witzig, erfindungsreich und voll von jener poetischen Heiterkeit, die in Gedichtbänden so selten ist:

Derlei
Rennen Hennen mit der
Brise auf die Wiese
Schleudern sturen Stieren
und diversen andren Tieren
Weizenkörner auf die Hörner

»Nach zwanzig Jahren Berlin bin ich angekommen«, sagt Babette Werth. Vieleicht meint sie, in Kreuzberg angekommen zu sein. Vielleicht meint sie den Heimathafen nach all den verstreuten Ankerplätzen. Vielleicht aber meint sie auch ihre Sprache:

Gute Nacht, X-Berg
Die falsche grüne Gaslaterne strahlt
im Halteverbot. Gerade steigt ein
Schatten aus dem Auto, daneben
Die Kneipe wirft gelbe Trapeze
Auf den Gehsteig. Wo Flaschen
Flaschen kicken, im Rinnstein
Reißt der flüchtige Gesprächs
Faden. Das Trotoir kichert und
Übergibt sich später im Schlaf.